EU-Familienpolitik: Mit Slogans ist es nicht getan

Der Slogan „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ klingt einfach und aufgeklärt. Die Europäische Kommission hat ihn als einen der Schlüsselbegriffe für mehr wirtschaftliche Leistung gesetzt. Auch in den meisten europäischen Ländern ist dies die Devise der Zeit. Was aber tut die nationale und europäische Politik wirklich, um die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu setzen? Denn im Alltag der Familien ist es mit einem Slogan leider nicht getan. Familien brauchen mehr.

Egal ob es um Sparprogramme, Freihandelsabkommen, Beschäftigungsquoten oder Kreditwürdigkeit in der EU geht: Wachstum und Arbeitsplätze sind die Zauberformeln, die immer wieder beschworen werden. Ohne Wachstum kein Wohlstand, ohne Arbeitsplätze keine Zukunftschancen, vor allem für  jüngere Generationen. Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik dominieren das Alltagsgeschäft auf europäischer Bühne. Dabei übersieht man allzu schnell, dass alle Bemühungen und Bestrebungen in diesen wichtigen öffentlichen Bereichen unaufhaltsam Auswirkungen auf einen ganz privaten Bereich haben: die Familie.

Auch wenn man vom aktuellen Krisendiskurs absieht und sich auf längerfristige Politiken der EU wie auf die Strategie 2020 konzentriert, wird man nicht direkt auf Familienpolitik stoßen, denn dies ist originär keine europäische Domäne. Sie fällt in die Verantwortung der Mitgliedsländer. Die Strategie 2020 ist geprägt von Wirtschaftswachstum, Investitionen in Innovation und Technologie und von einer Orientierung am demografischen Wandel. Das Konzept basiert auf der Annahme, dass alle Mitglieder der Gesellschaft wichtig sind und alle ihren Arbeitsbeitrag zum Wohlergehen der Volkswirtschaften liefern können sollen. Der „adult worker“ kommt für seine Existenzsicherung größtenteils selbst auf. Der Staat unterstützt solidarisch die Betreuung von Kindern und pflegebedürftiger Angehöriger, so dass auch immer mehr Frauen und Müttern die Möglichkeit bleibt, ihr eigenes Geld zu verdienen.

Indirekter Einfluss auf nationale Familienpolitik

Indirekt übt die Europäische Union somit bereits sehr wohl Veränderungsdruck auf die Politik ihrer Mitgliedsstaaten aus, wie auch Mechthild Veil in ihrem Artikel zur europäischen Familienpolitik anmerkt.

Mit dieser Art von Wirtschaftspolitik, die die Europäische Union im Zuge von Wohlstandssteigerung und erhöhter Produktivität ihren Mitgliedsländern vorgibt, trägt sie dazu bei, dass bezahlte Arbeit zum grundlegende Anerkennungsmuster in unserer Gesellschaft wird. Unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit  wie das Kümmern um Schwächere oder Sorgebedürftige, ist hier nicht eingeschlossen. Die Sozialgemeinschaft soll, soweit die Theorie, durch den Ausbau von Pflege- und Betreuungsmöglichkeiten Sorgearbeit auffangen. Was aber, wenn diese Strukturen zu kurz greifen oder noch gar nicht richtig oder gar schlecht etabliert sind? Und was, wenn Arbeitsmarktrealitäten mit einer Kinderbetreuung von 9 bis 16 Uhr nicht in Einklang gebracht werden können? Brauchen wir dann die 24 Stunden Kita?

Zumindest in Deutschland ist zu beobachten, dass sich Familien daran aufreiben. Die in der Werbung so oft beschworene Familienmanagerin kommt an ihre Grenzen und auch der hochmotivierte Familienvater erstickt im Dilemma, es weder der Familie noch dem Chef recht machen zu können. Denn nicht nur die Anforderung, dass beide Elternteile arbeiten müssen oder wollen, steigt, sondern auch die multiplen Anforderungen an das Koordinieren von Familie an sich. Verschiedene Zeitpläne von Familienmitgliedern müssen abgestimmt und unter einen Hut gebracht werden. Viele Mütter und Väter können den Spagat nicht mehr leisten. Fragen nach der Sinnhaftigkeit von „Familie“ werden aufgeworfen und damit auch die Frage, wie wir leben wollen, zwischen Arbeit und Familie hin- und hergerissen. Neben hochwertigen Strukturen, die die Sorgearbeit auffangen, brauchen wir auch Änderungen in Bezug auf Lohnungleichheiten, neuen Rollenmodellen oder der Präsenzkultur in Unternehmen.

Direkter Einfluss der EU auf familienpolitische Aktivitäten der Mitgliedsstaaten

Auf EU-Ebene wurde bereits vor Jahrzehnten durch die feste Verankerung vom Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in den europäischen Verträgen der Grundstein für eine familienpolitisch-sensible Arbeitsmarktpolitik gelegt worden: so z.B. durch den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen oder die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz oder Mutterschafts- und Elternurlaub. Die Charta der Grundrechte ist rechtsverbindlich.

Klingt gut. Es hapert allerdings in der Umsetzung. Was rechtsverbindlich ist, ist noch lange nicht gelebte Realität. Dies gelingt nur, wenn die festgelegten Richtlinien von einer Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof flankiert werden, wie dies in Sachen Kündigungsschutz von Schwangeren der Fall ist.

Des Weiteren kann die Europäische Union die Familienpolitiken ihrer Mitgliedsländer durch sogenannte länderspezifische Empfehlungen versuchen zu beeinflussen, die nach Abschluss des Europäischen Semesters formuliert werden. Diese sind auf jedes Mitgliedsland direkt zugeschnitten. Dass soziale Belange innerhalb der Mitgliedsländer auch auf EU-Ebene ernster genommen werden, kann man daran erkennen, dass in diesem Bereich die Länderempfehlungen angestiegen sind. Allerdings handelt es sich nur um Empfehlungen, die für die Mitgliedsländer unverbindlich sind.

Und was kann die EU noch in Zukunft tun?

In einigen Mitgliedsländern mag das Verständnis für die Verknüpfung von Familie und Beruf bereits verankert sein, in anderen holpert die Umsetzung  noch größtenteils. Um dem Slogan "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" in allen EU-Ländern gerecht zu werden, kann die EU dafür eintreten, Familienzeit aufzuwerten und gesellschaftlich anerkennungswert zu machen. So würde sich der "adult worker" nicht nur über bezahlte Arbeit definieren, sondern auch über Arbeit, die er oder sie für die Gesellschaft vollbringt. Ob durch Familienarbeit oder ehrenamtliche Arbeit im sozialen Bereich.

Um Zeit für Familie überhaupt einzuräumen, könnte die EU z.B. die Diskussion über alternative Beschäftigungsmodelle aufgreifen und forcieren, wie die 30-Stunden-Woche, oder die Debatte um alternative Arbeitszeitmodelle wie Heimarbeit, Gleitzeit, Arbeitszeitkonten, die sich den Lebensphasen angleichen oder die stärkere Einbindung von älteren Erwerbstätigen.

Außerdem könnte sie z.B. durch Förderprogramme für familienfreundliche Unternehmen und Kommunen einen gesellschaftlichen Wandel wie auch ein Umdenken in der Arbeitswelt forcieren. Hier wäre auf EU-Ebene die Einführung eines EU-Gütesiegels für familienfreundliche Unternehmen denkbar, die halten, was sie versprechen und mit innovativen Arbeitszeitmodellen punkten.

Die Europäische Union kann aber auch selbst als Arbeitergeberin auf diesem Feld Pionierarbeit leisten und in der Familienpolitik, ebenso wie es ihr in der Gleichstellungspolitik gelungen ist, Standards für ihr eigenes Tun, aber auch für das ihrer Mitgliedsländer setzen.

Die EU setzt Wirtschaftsstandards und damit auch Familienstandards

Es ist also höchste Zeit die Auswirkungen, die arbeitsmarktbeeinflussende Maßnahmen der EU haben, unter geschlechtergerechten und familienfreundlichen Aspekten zu beleuchten und auszuwerten. Hier kann die Europäische Union einen großen Beitrag leisten: Gleichstellungs- und Familienpolitik muss sichtbar und wichtig sein, denn jeder und jede von uns muss tagtäglich mit den Auswirkungen von wirtschaftspolitischen Impulsen leben. Das Abklopfen auf die Berücksichtigung von Familienleben und Sorgearbeit in bestimmenden Politikbereichen und daraus ableitend Empfehlungen auszusprechen, wäre ein erster Schritt, ob nun auf nationaler oder europäischer Ebene.

In Bezug auf das Krisenmanagement in den sogenannten Peripherieländern müsste dieses um einen Blick auf die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Familien erweitert werden. Gerade weil Konjunktur-, Einsparungs- und Wachstumsprogramme auf europäischer Ebene initiiert werden, muss auch hier die Familienpolitik Berücksichtigung finden.